Die Frage nach einer Verantwortung der Wissenschaft gegenüber unserer Gesellschaft bedingt die Frage nach einer Norm, um Verantwortung bemessen zu können. In einer Epoche, in der Wissenschaft und ihre Errungenschaften sowohl die moderne, westliche Gesellschaft als auch weite Teile ihrer Risiken begründet, scheint ebensolch eine Norm zu fehlen, um eine allgemeine Verantwortung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft auszumachen. Stattdessen herrscht eine Kontingenz aus politischer Nutzbarmachung, privatwirtschaftlichen Visionen oder gar nur den Bedingungen institutioneller Reproduktion, die Verantwortlichkeiten verschleiern. Und nicht zuletzt gibt es die Wissenschaftsfreiheit, die nicht allein für sich gilt, sondern im Verbund mit Verpflichtungen aufgefasst werden muss und so Aufschluss über Verantwortung geben kann. Einfacher wird die Antwort auf die Frage dadurch nicht, aber es zeigt sich, dass Verantwortung mindestens wechselseitig stattfindet und ebenso hinterfragt werden muss.
Wissenschaft – hier einmal abstrahiert als Einheit angenommen – konstituiert, was unsere Gesellschaft heute ist. Wenngleich sie gemeinhin nur als ein Teilsystem der Gesellschaft angesehen wird, so operiert doch ihr steter Quell disziplinär gesicherten Wissens als Bausubstanz, aus der die Säulen der Gesellschaft geschaffen sind. Zugleich aber scheinen die prinzipientreuen Leitmotive der Wissenschaft entmystifiziert durch reziprokes Früchtezehren zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sowie das damit einhergehende Dynamisieren von Risiken: „Die wissenschaftliche Bearbeitung von Modernisierungsrisiken setzt voraus, dass die wissenschaftlich-technische Entwicklung […] sich selbst zum Problem wird,“ schreibt Ulrich Beck schon im Jahre des Reaktorunfalls von Tschernobyl. Neben der Generierung von Bausubstanz also definiert die Wissenschaft zugleich die Risiken der daraus gewonnenen Säulen und schlägt hernach neue Bausubstanz vor. Die stetige Iteration dessen – eine reflexive Verwissenschaftlichung – hat die prinzipientreuen Leitmotive ausgehöhlt und damit eine Kontingenz von Partikularinteressen ermöglicht.
Allen voran als solch ein Leitmotiv hielt für den Westen grundsätzlich die Aufklärung her. Doch der Drang nach mehr Aufklärung, jetzt, ist selbst sowohl Sehnsucht nach einem mystischen Ideal als auch Verklärung eines Glaubens an vernunftbegründeten Fortschritt. Vernunft hat womöglich ihre größte Rolle bei der Anerkennung der relativen Beschränktheit von Wissen, nicht aber als entkoppelte Motivation von Wissenschaft insgesamt. Und wie könnte Fortschritt durch Vernunft gerechtfertigt sein, wo dieser Fortschritt kaum noch mehr beschreibt als eine verselbständigte Dynamik, die von Wissenschaft angeheizt wird mit ihren immer neuen, für gesellschaftlichen Fortschritt eingeforderten Technologien und hierauf angelegten Theorien zu deren Risiken.
An Prinzipien statt lässt sich solch ein Fortschritt einspannen für individuelle Interessen, lenkbare Lernprozesse und die Reifikation des Glaubens an die endlose Verbesserung durch Wachstum, an all denen kleinteilig Verantwortungen bemessen werden könnten: Diese Wissenschaft trägt womöglich Verantwortung für die Zugänglichmachung privater Mobilität; diese Wissenschaft dort verantwortet vielleicht die Einschränkung dieser Zugänglichmachung; und jene Wissenschaft zeichnet verantwortlich für die ökonomische Nutzbachmachung sowohl der Zugänglichmachung als auch der Mobilität selbst und ihrer Einschränkung auf Grundlage eines agilen Entrepreneurships; usw. Nach diesen Verantwortungen kann man fragen, aber man akzeptierte dadurch zugleich diese Normen, die die Frage nach der Verantwortung trivial erscheinen lassen und stattdessen in den Vordergrund rücken: Wer steht hinter der Wissenschaft? Sind es die Wissenschaftlerinnen, die Institutionen, die Forschungsförderer privatwirtschaftlicher oder gemeinnütziger Bestrebungen? Oder ist es nicht schlicht die Gesellschaft, die allem voran Fortschritt fordert und mit jedem Schritt hinfort Verantwortungsablass bezahlt? Fortschritt belastet rekursiv die ihn hervorbringende Wissenschaft und es ist letztendlich die Gesellschaft mit all ihren Institutionen, die als Einspanner diesen Fortschritt lenkt. Damit folgt aus der reflexiven Verwissenschaftlichung eine zwar nicht symmetrische, so doch reziproke Verantwortung: Wissenschaft verantwortet Gesellschaft verantwortet Wissenschaft.
Eine unbefriedigende Situation, wenn man Verantwortung sucht und zwischen lauter Handelnden keine Sorgetragenden finden kann. Hinzu kommt im fortwährenden Subjekt-Objekt-Tausch der Gewissen das bisweilen egoistische Ass, das progressive Wissenschaftlerinnen um den Willen thematischer Enttabuisierung und konservative Wissenschaftlerinnen für eine unerschöpfliche Diversität von Anliegen hervorzaubern: die Wissenschaftsfreiheit. Ein grundgesetzlich hohes Gut, zweifelsohne unantastbar – in einem diffusen Rahmen. Denn der Genuss dieser Freiheit in unserer Gesellschaft sollte als eng vertäut mit Verpflichtungen verstanden werden, aus denen dann Verantwortung erwächst. Ist es also nicht auch eine Verantwortung, Wissen frei von ökonomischen Barrieren zu teilen, wenn man die Freiheit genossen hat, an seiner (oft öffentlich finanzierten) Erschaffung teilgehabt zu haben? Und bockt nicht der Freiheitsgedanke, wenn machthabende Wissenschaftlerinnen sich nicht verantwortlich zeigen, historisch etablierte Verhältnis- und Bewertungsmuster in Geschlechter- oder Zugangsfragen abzubauen? Wieviel vom wissenschaftlichen Grundpotenzial der Kollaboration dürfen Wissenschaftlerinnen um der eigenen Karrieren Willen aufgeben?
Neben der Grundmotivation der Wissenschaft bietet sich dann Wissenschaftsfreiheit an als eine Norm, vorausgesetzt man ist gewillt, sie durch ihre Verpflichtungen im Zerrspiel mit Verantwortung zu erfassen. Die Ausgestaltung dieses Zerrspiels markiert den Handlungsspielraum, innerhalb dessen Wissenschaftlerinnen ihre Profession frei ausgestalten können. Grundlegend für diesen Handlungsspielraum sind auch pragmatische Größen wie Zugang, Gleichberechtigung oder Machtverhältnisse, denn Wissenschaft – in ihrer individuellen Ausgestaltung – ist Erwerbsarbeit und nicht brotlose Leidenschaft. Mitorganisiert wird diese Arbeit vom Management der Wissenschaft, das Exzellenz wie die Sau durchs Dorf treibt, und im Zuge dessen sollte unterstrichen werden wie institutionalisierte Strukturen Denken einengen: Wie Verantwortung einfordern für etwas, was zur Erreichung einer Kennziffer produziert wurde? Wissenschaftliche Produktivität kann zweifelsfrei bedeuten, vermeintlich unbrauchbare Null-Resultate gegenüber den p-Wert gesicherten Fortschrittsresultaten zu erarbeiten – und das wieder und wieder. Wissenschaft – entgegen ihres Ziehgeschwisterchens Innovation – braucht das. Dennoch werden unter Vorahnung ihrer Verselbständigungen reihenweise neue Messgrößen angelegt, die oft nur in positiven Ausprägungen (jungen) Karrieren helfen.
Bleibt die thematische Enttabuisierung als Flaggesetzen von Wissenschaftsfreiheit oder die Frage ganz allgemein, worum sich denn der Inhalt dreht. Das führt zu einem Zirkelschluss, wo wieder auch eine Motivation gesucht wird, oder recht polemisch: Was kommt nach der grenzenlosen Unterwerfung der Natur anderes als das kontinuierliche Zusammenfegen immer neuer Scherben? Wissenschaft kennt keine Stagnation, aber hat sie noch eine Vision? Für eine präemptive Lenkung der Wissenschaft zur Verwirklichung verantwortungsvoller Utopien scheinen umfängliche und konsistente Ideen zu fehlen. Und dies geht über unsere Gesellschaft hinaus: geschaffenes Wissen kennt keine Grenzen außer sein eigenes Infragestellen. Räte, Kommissionen und Kulturinstanzen ziehen aber Grenzen für das Schaffen von Wissen, die nun mehr als Akte der Balance zwischen disziplinärem Eigenbewusstsein und, wahlweise, politischer Nutzbarmachung, privatwirtschaftlicher Vision oder Bedingungen institutioneller Reproduktion sind. Aufgrund der Grenzenlosigkeit von wissenschaftlicher Kollaboration passiert dieses Grenzziehen zunehmend in internationalen Kontexten – bei allerdings oft regionalen Partikularinteressen. Wer in diesem Ringen eine Verantwortung bemessen will, braucht vor allem Antworten auf Fragen wie: Wer regelt die Gewaltenteilung zwischen privatwirtschaftlichen Interessen und gemeinnütziger Wissenschaft? Welche Formung des Menschseins setzen Technologieentwicklerinnen fest? Welche Kritik halten Geisteswissenschaftlerinnen für die Gesellschaft bereit und wirkt sie dort überhaupt? Und nicht zuletzt technokratisch: wieviel Lenkungshoheit dürfen Ranglisten und kontextlose Metriken haben?
Ist es also Ironie der Wissenschaft, dass kein Jahrzehnt nach Nutzbarmachung der CRISPR/Cas9-Genschere zur Tabuisierung bestimmter, konsequenter Folgeforschung aufgerufen wird? Oder ist es Ironie der Gesellschaft, dass die Debatte um die Verhinderung dieses sicher in einigen Jahrzehnten etablierten Werkzeugs weitestgehend unter Ausschluss ihrer selbst geführt wird? Darf man die Pilotin für das Ziel verantwortlich machen, wenn man nicht verbindlich festgelegt hat, wo man hinwill?
Dieser Beitrag entstand für einen Reader mit Texten zur Orientierung im Rahmen des Workshops „WISSENSCHAFT. FREIHEIT. POLITIK.“ des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie am 12. April 2019 in Berlin.