Nicht nur als Bundesministerin für Bildung und Forschung, sondern von 1995-2011 auch als Vorsitzende des Wissenschaftsforums prägt Edelgard Bulmahn das deutsche Wissenschaftssystem über viele Jahre. In ihrem Beitrag zeichnet sie ausführlich die Meilensteine des Wissenschaftsforums wie auch der sozialdemokratischen Wissenschaftspolitik seit 1990 nach. Sie beschreibt dabei nicht nur die kritisch-konstruktive Unterstützung der Reformpolitik der rot-grünen Regierungsjahre, sondern geht auch auf die intensive Auseinandersetzung des Forums mit der Transformation und Neukonstituierung des ostdeutschen Wissenschaftssystems ein.
Wer nach den Ursprüngen und den Hintergründen für die Etablierung des Wissenschaftsforums sucht, kann über den zeitgeschichtlichen Horizont der 80er Jahre nicht hinwegsehen. Die Kernenergie war spätestens nach dem GAU von Tschernobyl zum Auslaufmodell geworden. Das Waldsterben beleuchtete schlaglichtartig die Folgen unserer Lebens- und Wirtschaftsweise. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt schien in eine Sackgasse zu münden und die natürlichen Lebensgrundlagen insgesamt zu gefährden. Die Gentechnik tauchte am Horizont auf und warf neue ethische Fragen auf. Andererseits nahm die Globalisierung an Fahrt auf und die Mikroelektronik war auf dem Sprung, Wirtschaft und Gesellschaft tiefgreifend zu verändern. Japan schien die industrielle Vorherrschaft zu übernehmen. Deutschland drohte technologisch nicht mehr mithalten zu können und damit zugleich den erreichten Wohlstand zu gefährden.
Wissenschaft und Technik waren zu prägenden Kräften der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung geworden. Aber sie hatten ihre Rolle als Heilsbringer verloren. Sie führten nicht mehr automatisch zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen, sondern bescherten uns Probleme, die wir ohne sie gar nicht hätten. Wissenschaft und Technik waren aber zugleich mehr denn je Grundlage für wirtschaftlichen Erfolg, für materiellen Wohlstand, die erfolgreiche Bekämpfung von Krankheiten oder den Schutz der Umwelt. Im politischen Schlagabtausch entwickelte sich hieraus eine unüberwindbar scheinende Frontstellung. Auf der einen Seite diejenigen, die ein Zurück zur Natur forderten, Technik für die Ursache allen Übels hielten, und auf der anderen Seite diejenigen, die jegliche Diskussion über die wissenschaftlich-technische Entwicklung schlichtweg ablehnten.
Übersehen wurde dabei, dass wissenschaftlich-technische Lösungen nie alternativlos sind. Für die Politik bedeutete dies, es genügte nicht mehr, Wissenschaft und Forschung mit staatlichen Mitteln zu fördern und im Übrigen den Dingen ihren Lauf zu lassen. Die erfolgreiche Bewältigung des wissenschaftlich-technischen Wandels erforderte die Entwicklung von Gestaltungsoptionen. In welchen Feldern sollte sich der Staat verstärkt engagieren, wo sollte er sein Engagement zurückfahren oder sogar ganz aussteigen. Wie können Forschung und Technologie zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen genutzt werden? Wie können Sie zum Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen beitragen? Ist die Freiheit von Wissenschaft und Forschung unbegrenzt? Darf alles was möglich ist, auch gemacht werden?
All dies waren und sind Fragen, die in einer Demokratie nicht dem Aushandlungsprozess zwischen Wissenschaft, Industrie und staatlicher Administration überlassen werden dürfen. An den Entscheidungen müssen alle teilnehmen können. Und dies muss gefördert und organisiert werden. Dabei galt es vor allem die Sprachlosigkeit zwischen Wissenschaftler/innen und Ingenieuren einerseits und der Gesellschaft und Politik andererseits zu überwinden und ein Forum des Austausches zu etablieren, in dem frei von Entscheidungszwängen grundlegende Fragen der Zukunftsgestaltung erörtert werden können.
Mit der Etablierung des Wissenschaftsforums wollte die SPD eine solche offene Diskussionsplattform schaffen, die über das direkte politische Umfeld der Sozialdemokratie hinaus wirken und insbesondere auch eine Annäherung an die eher politikfernen Natur- und Ingenieurswissenschaften erreichen sollte. Dass dieses Konzept auf interessierte Nachfrage stieß, dokumentiert eine eindrucksvolle Zahl: Anfang der 90er Jahre, nicht lange nach seiner Gründung, verfügte das Wissenschaftsforum bereits über ein Netzwerk von 6.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, deren Interesse am Dialog zwischen Sozialdemokratie und Wissenschaften geweckt werden konnte, obwohl die meisten von ihnen nicht im Besitz eines Parteibuches waren.
Die Gründung des Wissenschaftsforums fiel in die Zeit zwischen dem Mauerfall im Herbst 1989 und der ersten freien Volkskammerwahl im Frühjahr 1990, die die Weichen für die Deutsche Einheit stellte. Damit wuchs dem Wissenschaftsforum quasi über Nacht auch eine Aufgabe zu, mit der es sich vor allem in den Anfangsjahren seiner Arbeit intensiv befasste, der Transformation und Neukonstituierung des ostdeutschen Wissenschaftssystems. Zahlreiche Publikationen und auch Veranstaltungen etwa in Chemnitz, Jena, Senftenberg oder Berlin-Adlershof illustrieren dies eindrucksvoll.
Die Diskussionen zeigten, dass es um mehr ging, als um die bloße Übertragung des westdeutschen Organisationsmodells der Forschungslandschaft auf das Gebiet der früheren DDR. Vor dem Hintergrund der zusammenbrechenden Industrie in den neuen Ländern, sollte die gezielte Ansiedlung von Hochschulen und Forschungseinrichtungen zur Entwicklung neuer, international konkurrenzfähiger Wirtschaftsstrukturen beitragen.
Wichtige Themen der Veranstaltungen und Veröffentlichungen des Wissenschaftsforums waren in den ersten Jahren seines Bestehens Diskurse um die Verantwortung von Wissenschaft, um Technikfolgenabschätzung und Wissenschaftskritik. Es ging um die Herausforderungen der Informationsgesellschaft oder die Folgen des Klimawandels. Alles Themen, die uns heute noch beschäftigen. Die Lebenswissenschaften stellen uns immer häufiger vor schwierige ethische Entscheidungen. Der Siegeszug des Internets bringt neue Herausforderungen mit sich, die politische, rechtliche, und gesetzgeberische Antworten erfordern. Und schließlich steht die Begrenzung des globalen Klimawandels nach wie vor auf der Tagesordnung.
Bereits der erste große Kongress des Wissenschaftsforums befasste sich mit dieser Bandbreite an Themen und stieß damit auf große Resonanz. Über 300 Gäste folgten der Einladung zum „Zukunftskongress“, der im März 1991 in Mainz stattfand und auch ein großes Medienecho erfuhr. Es ging um das spannungsvolle Verhältnis von Wissenschaft und Politik, um Zukunftsgestaltung und gesellschaftliche Zukunftsentwicklung, um Umweltpolitik, um die Zukunft von Wissenschaft und Hochschulen und um eine den Herausforderungen der Zeit genügende Finanzierung von Wissenschaft und Forschung.
Neben diesen übergreifenden Fragen der Gestaltung der wissenschaftlich-technischen Entwicklung befasste sich das Wissenschaftsforum von Beginn an auch mit Fragen der Organisation des Wissenschaftssystems. Es ging dabei unter anderem um das Verhältnis von Grundlagen- und Anwendungsforschung, um die stärkere Kooperation von Hochschulforschung, außeruniversitärer Forschung und privater Unternehmensforschung, um die fachbezogene Vernetzung von Wissenschaftsbereichen, um die Überwindung einer zu starren Segmentierung der Wissenschaftslandschaft und nicht zuletzt auch um die intensivere Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft.
Vor dem Hintergrund der schwierigen wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands setzte sich das Wissenschaftsforum ab Mitte der 90er Jahre verstärkt dem Thema der Innovationsfähigkeit Deutschlands auseinander. So stand der Kongress des Wissenschaftsforums im Jahr der Bundestagswahl 1998 unter dem Motto „Innovationen für eine zukunftsfähige Gesellschaft“. Dabei ging es nicht nur um Fragen, wie Wissenschaft und Forschung zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands beitragen können, sondern immer auch um die Verknüpfung von Innovation und Nachhaltigkeit, mithin um die Frage, welche Beiträge Wissenschaft und Forschung auf dem Weg zu einer nachhaltigen Lebensweise liefern können.
Die Fokussierung auf das Thema Innovation schlug sich letztlich auch im Wahlprogramm 1998 der SPD nieder. „Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit“ – war der Slogan, mit dem die SPD in den Wahlkampf zog. Der Wunsch nach Erneuerung, nach gesellschaftlicher Modernisierung nach 16 Jahren Kohl-Regierung wurde zu einem wesentlichen Faktor für den Wahlsieg. Das Wissenschaftsforum hatte hieran mit seinen inhaltlichen und programmatischen Impulsen einen nicht unerheblichen Anteil.
Die Diskussionen im Wissenschaftsforum lieferten zugleich wichtige Vorarbeiten für die Ausgestaltung Bildungs-, der Forschungs- und Wissenschaftspolitik und Innovationspolitik der rot-grünen Bundesregierung. So führte die starke Verankerung und Vernetzung des Wissenschaftsforums in der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft nach dem Regierungswechsel zu dem Programm InnoRegio und einem regelrechten Paradigmenwechsel beim Aufbau Ost: Weg von der Gießkanne hin zur Förderung von Wachstumskernen und zur Fokussierung auf regionale Schwerpunktbildungen.
Der wirtschaftliche Angleichungsprozess ist zwar bis heute nicht abgeschlossen, doch die Fokussierung auf die Vernetzung kompetenter, erfolgreicher Akteure, auf die Profilierung und Stärkung vorhandener Kompetenzen hat dazu beigetragen, dass wir heute in Ostdeutschland in Teilen wieder international wettbewerbsfähige industrielle Kerne haben.
Ein weiteres Beispiel ist die Frage nach dem Zusammenspiel von Wissenschaft und Wirtschaft, die im Wissenschaftsforum immer wieder thematisiert wurde. Wie bekommt man die unterschiedlichen Akteure zueinander, wie fügt man komplementäre Kompetenzen zusammen, wie schafft man aus einer Vielzahl beachtlicher Ansätze eigenständiger Einrichtungen und Unternehmen übergreifende, strukturierte und konvergente Forschungs- und Entwicklungsstrategien? Das waren Fragen, die uns damals schon beschäftigten. Die Stichworte und möglichen Antworten waren beispielsweise Verbundforschung, indirekt-spezifische Programme, gemeinsame Forschungsprojekte und Clusterbildung.
Mit dem Start des BMBF-Programms BioProfile im Jahr 1999 wurde die Förderung der Clusterbildung erstmals als zentrales Handlungsinstrument der Forschungsförderung etabliert. Und zwar mit großem Erfolg. Die Integration der biotechnologischen Kapazitäten in den Regionen führte zu einem dynamischen Innovationsprozess. Wissenschaft und Wirtschaft fanden in den Clustern zueinander, wissenschaftliche Erkenntnisse konnten durch ökonomisch sinnvolle Geschäftsmodelle für die Gesellschaft nutzbar gemacht werden.
Im Wissenschaftsforum war seit seiner Gründung die Verfasstheit der Hochschullandschaft immer ein zentrales Thema. Auch in diesem Zusammenhang lieferten die Diskussionen im Wissenschaftsforum wesentliche Impulse. Spätestens ab Mitte der 90er Jahre drohten die deutschen Hochschulen aufgrund ihrer Unterfinanzierung und verkrusteten Strukturen immer weiter hinter die weltweit führenden Hochschulen zurückzufallen.
Es galt deshalb, ihre Wettbewerbsfähigkeit deutlich zu stärken. Ein zentrales Element war die Verbesserung der Finanzausstattung, man denke an den Hochschulbau, an die Hochschulprogramme, an die DFG. Wichtige Eckpunkte waren beispielsweise die Reform des Dienstrechts mit der Einführung der W-Besoldung, die Einrichtung der Juniorprofessuren, die Etablierung des Bachelor-/Master-Systems im Zuge des Bologna-Prozesses, die Förderung der Internationalisierung und der Ausbau der Frauen- und Nachwuchsförderung.
Von herausragender Bedeutung für die Stärkung der Leistungsfähigkeit von Wissenschaft und Forschung in Deutschland waren vor allem die Exzellenzinitiative für den Hochschulbereich und der Pakt für Forschung und Innovation für die außeruniversitäre Forschung. Beide Instrumente konnten – nach zähen Verhandlungen – noch unter rot-grüner Regierungsverantwortung auf den Weg gebracht werden und bestehen bis heute fort. Mit den Exzellenzclustern wurden an den Universitätsstandorten international sichtbare und konkurrenzfähige Ausbildungseinrichtungen und Forschungsverbünde etabliert. Die Konzentration der Spitzenforschung auf bestimmten Themenfeldern über institutionelle Barrieren und Organisationsgrenzen hinweg hat die universitäre Forschung in Deutschland erheblich gestärkt. Heute kann man sagen, dass kein anderes Wissenschaftsprogramm die Profilbildung und Vernetzung in der Wissenschaft so vorangetrieben hat wie die Exzellenzinitiative.
Der Pakt für Forschung und Innovation sieht ausdrücklich die Vernetzung mit anderen Wissenschaftseinrichtungen und der Wirtschaft als Förderkriterium vor. Auch hier ging es wiederum um die Überwindung institutioneller Barrieren, um das Auffinden neuer Formen forschungsthemenbezogener Kooperation, um durch neuartige institutionelle Arrangements die Segmentierung der Wissenschaftslandschaft zu verringern und die Leistungsfähigkeit durch Kooperation zu stärken. Beide Maßnahmen, die Exzellenzinitiative und der Pakt für Forschung und Innovation, haben die deutsche Forschungslandschaft mächtig in Bewegung gesetzt und neue Potenziale eröffnet.
Das Wissenschaftsforum hat diese Reformpolitik während der rot-grünen Regierungsjahre kritisch-konstruktiv begleitet und nicht unerheblich zu ihrem Gelingen beigetragen. So war nach der Regierungsübernahme die enge Vernetzung mit der Wissenschaft durch das Wissenschaftsforum und die wachsende Zahl regionaler „Ableger“ auf eine neue Weise wertvoll. Anders als in den 90er Jahren konnten die Ergebnisse der im Wissenschaftsforum geführten Diskurse unmittelbar für die Regierungsarbeit nutzbar gemacht werden. Umgekehrt war das Wissenschaftsforum in dieser Zeit ein Resonanzboden, der erkennen ließ, wie die Reformprojekte aufgenommen wurden und sich in der Umsetzung bewährten.
In den letzten Jahren hat sich das Wissenschaftsforum verstärkt zwei wichtigen Feldern zugewandt, der Hochschulfinanzierung und der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. In einem 2011 verabschiedeten Thesenpapier fasst das Wissenschaftsforum die wichtigsten Punkte für die Zukunftsfähigkeit der Hochschulen zusammen. Dazu gehörte zuallererst die Aufhebung des unsinnigen Kooperationsverbotes und die Möglichkeit für den Bund, sich direkt und dauerhaft an der Grundfinanzierung der Hochschulen zu beteiligen. Eine, wenn auch längst nicht hinreichende, Änderung des Grundgesetzes ist inzwischen von der Großen Koalition auf den Weg gebracht worden, um der gesamtstaatlichen Verantwortung für den Hochschulbereich besser Rechnung tragen zu können. Das Wissenschaftsforum sprach sich weiterhin für die Weiterentwicklung und Fortsetzung der Exzellenzinitiative und des Paktes für Forschung und Entwicklung aus. Darüber hinaus sollten die Kooperationsformen zwischen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen weiter ausgebaut werden. Und schließlich brauchen wir dringend eine stärkere Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Das betrifft insbesondere die Karrieremöglichkeiten junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wir brauchen mehr Planbarkeit, mehr Verlässlichkeit, mehr Perspektiven. Dazu gehören vor allem eine Stärkung der Juniorprofessuren, die Etablierung des Tenure-Tracks und der Ausbau der W2- und W3-Professuren.
25 Jahre Wissenschaftsforum sind letztlich eine Erfolgsgeschichte. Ich hoffe, dass das Wissenschaftsforum auch in den kommenden Jahren Motor bei der Erarbeitung sozialdemokratischer Wissenschaftspolitik sein wird. Die enge Vernetzung mit der wissenschaftlichen Community, den Wissenschaftsorganisationen, namhaften Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Forschung, Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass die Wissenschafts- und Forschungspolitik sachgerecht und mit Blick auf die Bedürfnisse von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft erarbeitet und umgesetzt werden kann.
Dem Wissenschaftsforum wünsche ich weitere spannende, erfolgreiche 25 Jahre als kreative, kritische und konstruktive Kommunikationsplattform!
Edelgard Bulmahn
Ehemalige Bundesministerin für Bildung und Forschung