Sozialdemokratische Ideale umfassen die Schaffung adäquater Beschäftigungsbedingungen und sozialer Gerechtigkeit in allen Lebensbereichen. In der Wissenschaft mangelt es an beidem. Von einer sozialdemokratischen Wissenschaftspolitik wünsche ich mir deshalb, dass sie für faire Beschäftigungsbedingungen in allen Statusgruppen und gegen Hürden beim Zugang zum Wissenschaftssystem kämpft.
Wer als WissenschaftlerIn 100% leistet, darf nicht nur 65% verdienen. Was offensichtlich richtig scheint, ist in vielen Fächern nicht der Fall: Obwohl Promovierende voll arbeiten, werden sie oftmals nur teilweise entlohnt. Vergütungsmöglichkeiten bei der DFG sehen beispielsweise für die Geschichtswissenschaften nur bis zu 65% einer ganzen Stelle vor, für die Physik bis zu 75%, für den Maschinenbau aber bis zu 100%. Anders als mit unterschiedlicher Wertschätzung unterschiedlicher Disziplinen und reinem Nachfrage-Kalkül lässt sich diese Ungleichbehandlung kaum erklären. Auch bei haushaltsfinanzierten Qualifikationsstellen wird oftmals auf halben Stellen geforscht und gelehrt, selten weniger als 40 Stunden lang pro Woche.
Ebenso skandalös: Derzeit sind 75% der haushaltsfinanzierten MitarbeiterInnen an Hochschulen befristet tätig, bei den unter 45-jährigen sind es 93%, bei drittmittelfinanzierten MitarbeiterInnen sogar 98%. Und das trotz zahlreicher Daueraufgaben im Wissenschaftssystem. Auch ProfessorInnen werden im großen Stil befristet beschäftigt: An der Freien Universität Berlin sind beispielsweise knapp 30% der ProfessorInnen befristet tätig, ohne Perspektive auf Entfristung selbst bei hervorragender Leistung. Gelingt die Berufung auf eine der wenigen unbefristeten Professuren, dann im Durchschnitt erst nach einem Alter von 40 Jahren und damit 13 Jahre nach dem derzeitigen Durchschnittsalter beim Studienabschluss. Eine lange Phase der Kettenbefristung und beruflichen Unsicherheit liegt dazwischen, die weder den Menschen noch der Wissenschaft nützt.
In kaum einem Berufsfeld würden solche Beschäftigungsbedingungen toleriert, im Wissenschaftssystem aber sind sie Alltag. Und diese Hürden in der wissenschaftlichen Karriere tragen dazu bei, dass einige der Besten das Wissenschaftssystem verlassen. Darunter sind besonders viele Menschen mit Eltern ohne Hochschulabschluss und viele Frauen. Es gibt auch zu wenig Menschen aus dem Ausland, mit Migrationshintergrund und vergleichsweise wenig Eltern unter den ProfessorInnen. Das Resultat: Je höher die Statusgruppe, desto homogener ist diese. Soziale Gerechtigkeit in der Wissenschaftspolitik bedeutet für mich, Hürden abzubauen und auszugleichen, die zu Selektionen in der wissenschaftlichen Karriere führen, die unabhängig von der Leistungsfähigkeit eines Menschen sind. Das heißt, die Schaffung von Chancengerechtigkeit.
Eine Lösung für adäquate Beschäftigungsbedingungen und mehr Diversität im Wissenschaftssystem ist meiner Meinung nach die Schaffung zusätzlicher Professuren: Stellen, die möglichst früh in der wissenschaftlichen Karriere selbstständige Forschung und Lehre ermöglichen und langfristige Perspektiven bieten. Zusammen mit weiteren Mitgliedern der Jungen Akademie habe ich kürzlich gezeigt wie die kostenneutrale Umwandlung haushaltsfinanzierter Mittelbaustellen in Professuren im Rahmen einer Departmentstruktur umgesetzt werden könnte. Und wir haben eine Bundesprofessur als eine flexible und langfristige Personenförderung aus Bundesmitteln vorgeschlagen. Auch bestehende Formate wie der Nachwuchspakt und das Professorinnen-Programm können in aufgestockter Version wichtige Verbesserungen im Wissenschaftssystem anstoßen.
Und natürlich gibt es auch darüber hinaus weitere zentrale Stellschrauben, um die genannten Probleme zu adressieren und adäquate Beschäftigungsbedingungen und soziale Gerechtigkeit zu schaffen: die Verhinderung von Studiengebühren, die Anpassung des BAföG an Lebenshaltungskosten sowie faire und umfassende Regeln zur Vergütung und Entfristung von Stellen im Wissenschaftssystem.
PROF. DR. JULE SPECHT
Promovierte 2011 in Psychologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und ist seit März 2017 Universitätsprofessorin (W3-Professur) für Persönlichkeitspsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2014 ist sie Mitglied und seit 2017 Sprecherin des Präsidiums der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Foto: Jule Specht