Das Wissenschaftssystem auf dem Weg nach 2030

Unser Wissenschaftssystem ist im internationalen Vergleich auf einem sehr guten Wege. Das 3% Ziel der Lissabon Strategie 2020 ist so gut wie erreicht. Der Forschungsatlas der DFG, der gemeinsame Bericht von DFG und Wissenschaftsrat zur Exzellenzinitiative, das Imboden-Gutachten, die Monitoring-Berichte zum Pakt für Forschung und Innovation und die Berichte zur Umsetzung des Hochschulpakts – alle diese Berichte zeigen die erfreulich ansteigende Form unserer Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Die Entwicklung der Gemeinschaftsfinanzierung nach Art. 91b GG seit 2010 zeigt ein durchschnittliches Jahreswachstum um über 12% an; bei diesem Aufwuchs um 76% auf 14,8 Mrd. Euro in 2016 ist der Bund der Treiber. Insgesamt ist es nicht zuletzt angestoßen durch die „Weimarer Leitlinien Innovation“ der SPD von 2004 und vertieft durch den daran anknüpfenden Bildungsgipfel 2008 gelungen, das Wissenschaftssystem finanziell prioritär zu entwickeln. Der Anstoß dazu liegt gerade einmal ein Dutzend Jahre zurück; die zentralen Stichworte der Amtszeit der letzten Bundeswissenschaftsministerin der SPD sind noch aktuelle:  Ausbau der Frauenförderung und der Nachwuchsförderung, Reform der Professorenbesoldung, Bologna-Reform und Exzellenzinitiative. Die Exzellenzinitiative wirkt seit nunmehr zehn Jahren; die Bologna – Reform wirkt erst allmählich nachhaltig nach mehreren Korrekturschleifen – was bedeuten da knapp 14 Jahre von heute bis 2030 bei einem Veränderungsmodus im Wissenschaftssystem, der eher mit kleinen Schritten als großen Sprüngen beschrieben werden kann?

Das Institutionengefüge des Wissenschaftssystems ist stabil und von Natur aus träge. Veränderungen finden im Inneren und zwischen den bestehen Institutionen statt, um die eigenen Aufgaben noch besser erfüllen zu können. Für die Steuerung ist schon heute erkennbar, dass das Recht als Steuerungsmedium gegenüber robusten finanziellen Anreiz- und Belohnungssystemen verloren hat und weiter verlieren wird. Dies ist eine besondere Herausforderung für die SPD in den Ländern, haben sich die Akteure dort mit großem Engagement um Hochschulgesetze gekümmert, während der Bund den Verlust der Rahmengesetzgebungskompetenz kaum als schmerzlich empfindet. Mit Bildungsgipfel, Pakten und Haushaltsaufwuchs verfügt er über die künftig noch entscheidenderen Steuerungsinstrumente, deren Einsatz er allerdings mit den Ländern vielfach vereinbaren muss. Die SPD führt gegenwärtig zehn der sechszehn Wissenschaftsministerien, eine große Chance, die horizontal und vertikale Koordination erfordert, um nachhaltiges sozialdemokratisches Profil auf diesem Feld zu entwickeln. Versteher und Kümmerer für alle Gruppen und für die teilweise selbst gesteuerten Prozesse im Wissenschaftssystem wären eine attraktive politische Grundlage, zu der auch ein positiv-kritisches Verständnis von Autonomie gehört.

Im Zentrum steht der Mensch – was könnte daraus folgen. Das Bestreben nach besserer Bildung wird nicht nachlassen. Bildungschancen offen zu halten, weiter zu entwickeln und qualitativ zu verbessern – dies sollte Ausgangspunkt unseres Anliegens sein, die staatliche Hochschulinfrastruktur überall in Deutschland darauf zu orientieren. Hier gibt es eine lange Linie zurück bis hin zum Öffnungsbeschluss der Ministerpräsidenten 1977 und zu den Hochschulsonderprogrammen 1989/90. Wie der Hochschulpakt zeigt, wird das als eine nationale Aufgabe nur gemeinsam mit dem Bund gelingen. Drei Jahrzehnte der Projekte haben geholfen, es wird Zeit, die Herausforderung mit Art. 91b GG strukturell anzugehen. Studienangebote für junge Menschen dürfen nicht allein an der Finanzkraft der Länder oder der aktuellen demografischen Entwicklung ausgerichtet werden. Mit „Gesellschaft und Wirtschaft 4.0“ ist ein Fachkräftebedarf verbunden, für dessen Sicherung quantitativ und qualitativ wachsende Verantwortung auf die Hochschulen zukommt. Auch mit Blick auf das Ziel, aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger für unser Gemeinwesen zu gewinnen und Fachkräften reflexive Kompetenz in einer zunehmend digitalisierten Welt zu erhalten, sollte die SPD das Thema Innovation weiterhin für sich reklamieren und Lehre und Studium sowie Forschung und Transfer einbetten.

Der Prozess der Stärkung der Hochschulen muss mutig fortgesetzt werden. Während sie in der Lehre eher breit aufgestellt sein müssen, um ihre Mission für Studieninteressierte, Fachkräftebedarf und Anforderungsprofil des künftigen Arbeitsmarktes zu erfüllen, bedarf ihr Auftrag in Forschung  und Transfer der weiteren Profilierung, innerhalb der Hochschule und zwischen den Hochschulen. Das ist eine Langfristaufgabe, die bis 2030 intensiviert angegangen werden sollte. Ein in der Dimension neues Aufgabenfeld wird im Bereich der Weiterbildung eröffnet, mit deutlichen Schwerpunkten im Zeitverlauf: Zunächst wird mit der Intensivierung von „Gesellschaft und Wirtschaft 4.0“ ein deutlich ansteigender Bedarf an kurzfristiger konkreter Anpassungsweiterbildung entstehen, der gegen Ende des Jahrzehnts nach allen Prognosen in ein dauerhaft verändertes Weiterbildungsverhalten übergehen dürfte. Hier sind neue Notwendigkeiten erkennbar, die Gegenstand eines Paktes werden könnten.

Die Grundlagenforschung ist mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft primär für die Universitäten und der Max-Planck-Gesellschaft sehr gut aufgestellt; beide Einrichtungen steuern sich autonom. Mit der Helmholtz Gemeinschaft ist ein wichtiger gesellschaftlicher Auftrag verbunden rund um die sog. großen Fragen; mit dem 90:10 Finanzierungsschlüssel zwischen Bund und Ländern wird angedeutet, dass der Bund hier sein forschungspolitisches Feld sieht. Die innovationsorientierte Nachfrage der Wirtschaft wird von der Fraunhofer Gesellschaft aufgenommen. Bei der Leibniz Gemeinschaft sind die Ursprünge klarer als die wissenschaftspolitische Verortung im Wissenschaftssystem, unabhängig von den begrüßenswerten internen Ansätzen für Wettbewerb und Koordination. Hier werden sich die Länder verstärkt fragen müssen, ob sie die weitere Entwicklung eher als ein gemeinsames föderales Projekt der Forschungspolitik in den Ländern anlegen oder in Richtung einer Art MPG bevorzugen wollen, zumal bei überregionaler Bedeutung eine rechtliche Herauslösung von Einrichtungen aus den Hochschulen für die Gemeinschaftsfinanzierung nicht mehr konstitutiv ist.

Auch bei den Hochschulen für angewandte Wissenschaften ist die Herkunft klarer als die Zukunft. Angewandte Forschung ist unabdingbar für Innovation und sollte ihren Platz im Fördersystem finden, nicht bei der DFG und ihrer Grundlagenorientierung – die HAWs auf die DFG zu verweisen, würde konsequenterweise von ihnen eine Abwendung von der angewandten Forschung fordern, sondern in einer eigenen Fördereinrichtung, deren Programme entsprechend profiliert sind und deren Förderhandeln streng wissenschaftsgeleitet ist. Ein deutlicher Reputationsgewinn für diesen Bereich wäre ein willkommener Effekt, der auch die Binnenorganisation der Wissenschaftsministerien erfassen würde.  Dringend erforderlich ist eine weitere Profilierung der einzelnen Hochschulen und ihrer auf praxisorientierte Lehre und angewandte Forschung ausgerichteten Berufungspolitik. Anreize zum Wettbewerb um beste Köpfe sollten möglich werden, damit ein reputationsfördernder Berufungsmarkt entsteht; die einmalige Berufung mit berufslebenslanger Bindung an eine Hochschule fördert zwar das interne Zusammengehörigkeitsgefühl; ob es zur Leistungssteigerung des Systems „HAW“ beiträgt, ist jedoch eine andere Frage. Würden diese Entwicklungen greifen, verlöre das Promotionsproblem deutlich an Symbolkraft. Es ist davon auszugehen, dass die dazu bereits auf den Weg gebrachten Einstiege letztlich unumkehrbar sind; lediglich die konkrete Ausgestaltung ist noch offen, sollte aber letztlich kein Aufreger mehr sein.

Auch 2030 wird es mehr junge Menschen geben, die sich selbst das Ziel setzen, Wissenschaft zum Beruf zu machen, als Dauerstellen im Wissenschaftssystem verfügbar sein werden. Wir werden für die Grundlagen des schrittweisen Auswahlprozesses einstehen: Transparenz und Berechenbarkeit der Qualifizierungs- und Karrieremöglichkeiten, Geschlechtergerechtigkeit, frühe Selbstständigkeit, Freiraum für Qualifizierung,  Fairness bei den Auswahlprozessen in der Wissenschaft. Wir sollten klare Position beziehen zwischen den Extrem-Modellen einer frühen beruflichen Sicherheit, verbunden mit frühen Auswahlentscheidungen und damit Ausscheiden vieler aus dem wissenschaftlichen Nachwuchs, oder sehr später Auswahlentscheidungen, die vielen jungen Menschen die Möglichkeit bietet, sich (zu) lange zeitlich befristet auszuprobieren mit dem Ergebnis, dass viele erst im Laufe des dritten Lebensjahrzehnts aus der Wissenschaft ausscheiden, so wie es heute der Fall ist. Die Vorstellungen einer künftigen Personalstruktur müssen sich an dieser Grundposition orientieren, damit der Mensch im Mittelpunkt bleibt. Funktional ist unstrittig, dass gerade die Hochschulen mehr Dauerstellen auf allen Ebenen benötigen, damit sie ihre Aufgaben vor allem auch in der Lehre angemessen erfüllen können und der wissenschaftliche Nachwuchs nicht länger als Lückenbüßer für Regelaufgaben missbraucht wird. Gesonderte Personal-Bundesprogramme sind gegenüber einer angemessenen, dauerhaften Nachfolgeregelung beim Hochschulpakt mit festen Verpflichtungen der Länder beim Ausbau der  Personalstruktur nachrangig.

Der neu gefasste Art. 91b GG eröffnet neue Möglichkeitshorizonte. Er bietet Chancen, wichtige strukturelle Herausforderungen sachgerecht zu lösen, ohne Wissenschaftspolitik und Finanzpolitik aufgehen zu lassen. Für zweifellos auch künftig notwendige Steuerungsanliegen steht mit projektförmig gestalteten Pakten das richtige Instrument zur Verfügung. Gegenüber diesen Chancen sind jedoch auch Risiken nicht zu übersehen, vor allem für das Verhältnis von Bund und Ländern. Mit dem Pakt für Forschung und Innovation und den Pauschalen der DFG hat sich jenseits der offiziellen Finanzierungsschlüssel das tatsächliche Finanzierungsverhältnis in Richtung wachsender Anteile des Bundes verschoben – eine Herausforderung, die vermutlich bereits 2020 zu bearbeiten sein wird mit Folgen für 2030. Werden die Länder mit erheblichen zusätzlichen finanziellen Leistungen die bestehenden Finanzierungsschlüssel stabilisieren oder wird die Schlüsselfrage 2020 zu einer „Schlüsselfrage“? Es geht um die föderale Augenhöhe. Hochschulbau und BAföG stehen für zweitbeste Problemlösungen: die Lösung sollte in jedem Fall innerhalb der Gemeinschaftsfinanzierung angestrebt werden. Denkbar wäre z. B. der finanzielle Rückzug auf einen Finanzierungsschlüssel von 10% bis 25% in Bereichen, die von der Wissenschaft autonom gesteuert werden, und eine Konzentration der dadurch freiwerdenden Mittel auf Bereiche, die für die Forschungspolitik der Länder und ihre Hochschulen von besonderer Bedeutung sind – ein föderales Projekt.

Nachdem die Lissabon-Agenda 2020, die Agenda 2010 und der Bildungsgipfel 2008 weitgehend abgearbeitet sind, brauchen wir neue, ehrgeizige Zielsetzungen für die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems. Dafür sollte das SPD – Wahlprogramm 2017 Orientierung geben. Bund und Länder werden in der GWK grundsätzliche Möglichkeiten ausloten. Zum frühestmöglichen Zeitpunkt in 2018 sollten alle relevanten politischen Akteure einen Bildungsgipfel auf die Tagesordnung setzen, dessen Ergebnisse bis 2030 tragen.