Chancengleichheit im Wissenschaftssystem hat vielfältige Facetten. Zunächst ist zu fragen, wie Chancengleichheit hergestellt werden kann in Bezug auf den Zugang zum Wissenschaftssystem. Der Nationale Bildungsbericht 2018 hat erneut die sozialen Disparitäten beim Hochschulzugang dokumentiert. Verfügen die Eltern über einen Hochschulabschluss, studieren 79 % der Kinder, haben die Eltern einen beruflichen Abschluss, aber kein Abitur, sind es nur 24 % der Kinder. Oftmals korreliert der höchste Bildungsabschluss der Eltern mit dem verfügbaren Elterneinkommen – je höher der Abschluss, je höher das Einkommen. Auch wenn das verfügbare Einkommen nicht die allein erklärende Variable ist, so kann mit guten Gründen davon ausgegangen werden, dass eine Wiedereinführung des Schüler*innen-BAföG auch für Kinder, die noch im Elternhaus wohnen, erhebliche Bildungsreserven heben und Kindern einkommensarmer Elternhäuser den Erwerb des Abiturs überhaupt erst ermöglichen würde. Deshalb plädiert der DGB nachdrücklich für eine Wiedereinführung des Schüler*innen-BAföG.
Auf einen Blick
- Zugänge für nichttraditionelle Studierende und Bewerber*innen fördern und geschlechtergerecht ausgestalten
- Finanzierungsinstrumente mit dem Ziel der Chancengleichheit ausbauen, Gender-Budgeting umsetzen
- Maßnahmen und Förderprogramme zur Erhöhung des Frauen- bzw. Männeranteils in den Fächern, in denen das jeweilige Geschlecht unterrepräsentiert ist, auf allen Qualifizierungs- und Karrierestufen
- Gesetze und Förderprogramme mit überprüfbaren Kriterien auf Förderung von Chancengleichheit und Geschlechtergerechtigkeit ausrichten
- Entfristungsoffensive im Wissenschafts-system
- Verbindliche Quotierungen von Professuren und Leitungsfunktionen in Hochschule und Forschung, überprüfbare Zwischenschritte definieren
- Familienfreundlichkeit und Vereinbarkeit in der Wissenschaft aktiv fördern
- Stärkung der Mitbestimmung, insbesondere der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten
Nicht nur finanzielle, auch mentale Hürden müssen auf dem Weg in das Wissenschaftssystem überwunden werden. Wer in seiner Familie keine akademisch qualifizierten Vorbilder hat, dem ist der Schritt in die Hochschule fern. Programme wie das der Talentscouts in NRW scheinen hier ein durchaus erfolgversprechender Ansatz. Talentscouts begleiten an Berufskollegs, Gesamtschulen und Gymnasien Schüler*innen der Oberstufe bei ihrem Übergang in die Berufsausbildung oder in ein Studium. Sie könnten eine gute Studien- und Berufsorientierung an allen Schulformen ergänzen. Das Programm richtet sich insbesondere an Kinder und Jugendliche aus Familien ohne akademische Erfahrung und/oder mit Zuwanderungsgeschichte.
2017 waren knapp 51 % der Studienanfänger*innen Frauen. Der Frauenanteil der Promovierenden lag im gleichen Jahr bei 44,8 %, bei den Habilitationen knickt er schon deutlich auf 29,3 % ein. Nach wie vor zeigt sich ein sinkender Frauenanteil mit steigender Qualifikation im Wissenschaftssystem, obwohl Frauen gut die Hälfte der Studienanfänger*innen stellen.
Das spiegelt sich im hochschulischen Beschäftigungssystem. 52,7 % aller Hochschulbeschäftigten waren 2017 weiblich, ihr Anteil am hauptberuflichen wissenschaftlichen und künstlerischen Personal sinkt schon auf 39,3 %. Bei den hauptberuflichen Professoren lag der Frauenanteil 2017 noch bei 24,1 %, an den C4 Professuren betrug ihr Anteil nur noch 11,5 %. So deutlich die geschlechtsspezifische Segregation, so bekannt und hartnäckig ist die „leaky pipeline“.
Bei den außeruniversitären Forschungs-einrichtungen sah die Welt 2016 auch nicht wesentlich anders aus. Der Frauenanteil beim Personal für Forschung und Entwicklung lag in diesem Sektor insgesamt bei 40,5 %, beim wissenschaftlichen Personal lag er bei knapp einem Drittel (32,6 %).
Insbesondere Frauen schrecken vor dem langen prekären Weg zur Wissenschaft als Beruf zurück. Eine Entfristungsoffensive in der Wissenschaft würde allen Beschäftigten im Wissenschaftssystem nutzen, ganz besonders aber Frauen. Die geplante Verstetigung der Hochschulpaktmittel ist deshalb ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Stellen, die aus Mitteln des Hochschulpaktes geschaffen werden, sollten zudem als Dauerstellen eingerichtet werden.
Hochschulen und Forschungseinrichtungen sollten stärker danach beurteilt werden, ob sie erfolgreich das Ziel der Chancengleichheit verfolgen. Um dieses zu erreichen, sind sowohl Veränderungen in den Organisationsstrukturen wie in der Finanzplanung – Stichwort: Gender Budgeting – als auch überprüfbare Kriterien erforderlich. Bei der Besetzung von Professuren und Leitungsfunktionen in Hochschule und Forschung sind verbindliche und mit Sanktionen verknüpfte Quotierungen erforderlich. Gleichstellung muss sich für die Institutionen auszahlen, sie darf nicht dem guten Willen Einzelner überlassen bleiben. Und natürlich müssen die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten gestärkt werden.
Geschlechtergerechtigkeit und Familienfreundlichkeit in der Wissenschaft gehören zusammen. Maßnahmen in diese Richtung kommen als wesentliche Beiträge zur Sicherung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie allen Beschäftigten zugute. Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften fordern deshalb eine konsequent gleichstellungsbezogene Familienpolitik, die sich gleichermaßen an Frauen und Männer richtet. Dazu gehören bedarfsgerechte, qualitativ hochwertige Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, die allen Kindern aller Hochschulmitglieder – auch Studierenden – offenstehen. Die Berücksichtigung der besonderen Belange von Menschen mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen muss in den Strukturen und der Kultur von Hochschulen und Forschungseinrichtungen verankert werden. Altersgrenzen in Hochschule und Forschung – insbesondere bei den wissenschaftlichen Karrierewegen und Förderinstrumenten stehen dem entgegen.
Gleichstellungskonzepte müssen sich auf die Studierenden, den wissenschaftlichen Nachwuchs, alle Beschäftigten im wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Bereich sowie über alle Hierarchieebenen erstrecken.
Zur Chancengleichheit in der Wissenschaft gehören auch der geschlechtergerechte Zugang und geschlechtergerechte Karriereperspektiven in den verschiedenen Fachkulturen. Nach wie vor differiert die Wahl des Studienfaches stark zwischen den Geschlechtern. Ziel von Aktivitäten der Hochschulen und Forschungseinrichtungen muss die Erhöhung des Frauen- bzw. Männeranteils in den Fächern, in denen das jeweilige Geschlecht unterrepräsentiert ist, sein, sowohl bei Studierenden, Absolvent*innen als auch den Beschäftigten.
Dieser Beitrag entstand für einen Reader mit Texten zur Orientierung im Rahmen des Workshops „WISSENSCHAFT. FREIHEIT. POLITIK.“ des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie am 12. April 2019 in Berlin.