Das gegenwärtige Wissenschaftssystem stellt seit ca. 30 Jahren den Wettbewerb zwischen den individuellen WissenschaftlerInnen und zwischen den Institutionen in den Mittelpunkt. Seine Vertreter verzichten in der Regel auf die Frage, welche Verantwortung Wissenschaft (außer der Ankurbelung von Wirtschaft) generell trägt bzw. wozu sie dient. Stattdessen gehen sie von der Annahme aus, dass wissenschaftliche Leistungen durch Wettbewerb zugleich am besten motiviert, gesteigert und im qualitativen Ergebnis definiert werden. Die Besten gewinnen und haben das Sagen, ohne vorherige Klärung der Kriterien dafür, warum und in welcher Hinsicht sie die Besten sind.
Auch die von der SPD initiierte Exzellenzinitiative atmet diesen Geist. Was Exzellenz ist oder woran sie sich misst, wurde nie geklärt. Sie zielt auf individuelle oder institutionelle „Leuchttürme“, die den Weg weisen sollen, dessen Ziel nicht diskutiert wird. Exzellent ist, was „herausragt“, was sichtbar ist. Der Markt bringt Exzellenz hervor und zeigt sie. So gerät wissenschaftliche Kooperation vielfach in Gegensatz zu Exzellenz, vor allem wenn und weil sie partnerschaftlich geschieht, also ohne dass die Besten „herausragen“. Kooperation mit der Wirtschaft, um Forschungsergebnisse ökonomisch auszuwerten, nicht aber die Identifikation gesellschaftlicher Herausforderungen und deren Lösung gehört zu den Förderkriterien der Exzellenzinitiative. De facto zielt das gegenwärtige Wissenschaftssystem vornehmlich auf die Förderung individueller Karrieren und institutioneller Reputation. Ohne Ranking geht nichts.
Da Wissenschaft existenziell von Freiheit lebt und eine nachhaltige rechtliche und soziale Verfassung der Freiheit zur Voraussetzung hat, ist es m.E. auch in ihrer Verantwortung, diese zu stärken und zu entwickeln. Diese Position ist keineswegs allgemein anerkannt. Zwar hat der Wissenschaftsrat nach langen internen Diskussionen 2015 zum ersten Mal Antworten auf „Gesellschaftliche Herausforderungen“ ebenfalls zur Aufgabe von Wissenschaft und damit von ihrer Förderung erklärt. Aber während die Kooperation mit Unternehmen im gegenwärtigen Wissenschaftssystem selbstverständlich verankert ist, bleiben wissenschaftliche Beiträge zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen bei vielen WissenschaftlerInnen unter dem Verdacht der politischen „Verunreinigung“. Sie werden auch in refereed journals und damit für die wissenschaftliche Karriere nicht beachtet.
Das sollte sich ändern. Wissenschaft folgt zu Recht ihren methodologischen Kriterien in der Wahrheitssuche. Die Identifikation von Forschungsthemen setzt jedoch Wertentscheidungen voraus, die nicht „rein“ wissenschaftlich begründet werden können (Max Weber). Niklas Luhmanns „Autopoiesis“ ist ein Weg. Aber wichtiger ist zunehmend die Kommunikation mit außerwissenschaftlichem (Erfahrungs-)Wissen, um dringende Themen zu bestimmen und die Wissenschaft in engere Kommunikation mit der Gesellschaft zu bringen, wobei beide gewinnen: Gesellschaft erfährt genauer, was Wissenschaft treibt und Wissenschaft versteht genauer, was Gesellschaft treibt. In der transdisziplinären Transformationsforschung haben wir sehr gute Erfahrungen mit Transdisziplinarität gemacht: Im Austausch mit Politik, organisierter Zivilgesellschaft und Wirtschaft kann Erfahrungswissen besonders fruchtbar mit Wissenschaft kooperieren, auch „antagonistisch“ – also durchaus auch im Konflikt zwischen den unterschiedlichen Begründungs-, Anreiz- und Bewährungs-Logiken.
Gleiche Zugangschancen zum gegenwärtigen Wissenschaftssystem werden prinzipiell durch die Faktoren verwehrt, die bereits ungleichen Zugang zum Bildungssystem bewirken. Darüber hinaus führt der immer noch aktuelle kulturelle Vorrang des Wettbewerbs vor der Kooperation tendenziell in der post-doktoralen Phase zum Ausschluss von Frauen, die sich der manischen Wettbewerbskultur nicht gewachsen fühlen, sich ihr auch aus Einsicht verweigern und ihr überdies im Kontext der Familienbildung oft weder materiell noch psychisch standhalten können.
Digitalisierung kann m.E. für sich nicht Fortschrittstreiber im normativ reflektierten Sinn sein. Sie bietet neue Gelegenheiten, kann aber von sich aus nicht sagen, was Fortschritt ist oder sein soll: technische Effizienz? Emanzipation und umfassende gesellschaftliche Befreiung? Antworten darauf zu geben ist das Geschäft von Philosophie, Gesellschaftstheorie und gegebenenfalls Theologie. Digitalisierung tendiert technisch zur Ent-Örtlichung von Produktion und zur örtlichen Separierung von Individuen bei gleichzeitiger Steigerung von Kommunikation. Sie befördert Vielfalt und Effizienz und fordert Überlegungen und Aktivitäten heraus, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt (Integration) gegen örtliche Separierung nachhaltig dienen. Als negativer Stachel und gleichzeitige Ermöglichung ist sie wirksam, aber die Menschen müssen ihre Antworten auf die Frage nach dem Fortschritt in eigener Verantwortung finden.
Dieser Beitrag entstand für einen Reader mit Texten zur Orientierung im Rahmen des Workshops „WISSENSCHAFT. FREIHEIT. POLITIK.“ des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie am 12. April 2019 in Berlin.