Das hat das Jahr 2020 bereits mehr als deutlich gezeigt: Gesellschaftlichen Zusammenhalt, Sicherheit und nachhaltigen Fortschritt gibt es nur durch gemeinsames Handeln und Solidarität.
Entsprechend haben die EU-Kommission und die Bundesregierung sowie der Deutsche Bundestag mehrere Initiativen gestartet, um der globalen Gesundheitskrise und der durch Corona bedingten wirtschaftlichen Rezension auch eine europäische Antwort entgegenzusetzen. Nach anfänglichen Rückfällen in national beschränkten Krisenaktionismus zeigt Europa damit, wie Solidarität in einem eng verbundenen und gleichzeitig vielfältigen Kontinent funktionieren kann. Diesen neuen Schwung in der europäischen Debatte und die für alle Europäer*innen offensichtliche Notwendigkeit einer engen Absprache und Koordination über Ländergrenzen hinweg sollten wir auch in der Jugend-, Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungspolitik nutzen, um neue europäische Impulse zu setzen. Und das gilt ganz besonders für dieses Feld der Zukunftspolitik, auf dem wir die Gefühle und die Identität, ja die „Seele“, Europas mit ansprechen.
Deshalb stellen wir Bildungspolitiker*innen in der SPD-Bundestagsfraktion 10 Forderungen für die Bildungs-, Wissens- und Forschungsunion Europa. Wir wollen die deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um eine neue Bildungsvision für Europa auf den Weg zu bringen und Innovationen in der europäischen Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungspolitik anzustoßen. Das Diskussionspapier der AG Bildung und Forschung in der SPD-Bundestagsfraktion finden Sie deshalb hier als Debattenbeitrag auf den Seiten des SPD-Wissenschaftsforums auf forscher.de.
Deutsche Ratspräsidentschaft für Innovationen in der europäischen Bildungs- und Forschungspolitik nutzen
1) Europa erleben – ERASMUS-Mittel verdreifachen
Der Grundstein für die europäische Bildungs- und Forschungspolitik dieser Dekade wird jetzt gelegt. Wir fordern: Deutschland soll sich dafür einsetzen, im EU-Finanzrahmen 2021-27 die Finanzmittel des ERASMUS+-Programms auf 45 Milliarden Euro zu verdreifachen. Wir wollen ein Europa, in dem sich noch mehr junge Menschen begegnen, Europa erleben und die europäische Zukunft gemeinsam gestalten. Dazu wollen wir die Erfolgsgeschichte des ERASMUS-Programms mit einer Verdreifachung der Mittel fortschreiben, damit noch mehr Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden und Studierenden ein Aufenthalt in einem anderen europäischen Land ermöglicht wird. Damit Menschen aus sozial benachteiligten Verhältnissen auch von den europäischen Austauschprogrammen profitieren können, fordern wir bessere Informationsangebote und Beratung, mehr Unterstützung bei der Wohnungssuche sowie höhere Förderbeiträge für finanzschwache Familien sowie eine bessere personelle und finanzielle Ausstattung der International Offices an den Hochschulen, die eine wichtige Anlaufstelle für Studierende sind.
2) Aus der Krise lernen – Europa zum Spitzenreiter bei der digitalen Bildung machen
Die Corona-Krise hat gezeigt: Digitale Bildungsangebote sind zentraler Bestandteil guter Bildungs- und Wissenschaftspolitik und: Es gibt noch viel zu tun bei der Digitalisierung im Bildungsbereich. Deutschland soll während der EU-Ratspräsidentschaft starke Akzente setzen, um die Bildungslandschaft in Europa entlang der gesamten Bildungskette weiter zu digitalisieren. Deswegen fordern wir mehr Investitionen in digitale Infrastruktur, europäische best practice-Erfahrungen in der digitalen Bildung für alle verfügbar zu machen, digitale und frei verfügbare Europa-Lernangebote in allen Sprachen der Mitgliedsstaaten kostenlos zur Verfügung zu stellen (Open Educational Ressources), digitale Austauschplattformen für Schüler*innen, Studierende, Wissenschaftler*innen und Auszubildende zu entwickeln und Förderinstrumente für digitale Bildung in bestehende Förderlinien aufzunehmen.
3) Digitale Bildung konkret – Online-Sprachkurse für Europa
Deutschland soll sich dafür einsetzen, Fremdsprachenkurse an ERASMUS-Hochschulen zu erweitern und zu digitalisieren. Dafür sollen die sogenannten Online Linguistic Support-Fremdsprachenkurse an teilnehmenden ERASMUS-Hochschulen auf alle EU-Sprachen sowie perspektivisch auf alle Sprachen des Europäischen Hochschulraums ausgeweitet werden. Gemeinsame Sprachkenntnisse schaffen europäische Gemeinsamkeit, deswegen sollen Online-Sprachkurse mit europäischen Qualifikations-Zertifikaten möglichst vielen EU-Bürger*innen offenstehen. Dadurch erleichtern wir den Zugang, um eine Fremdsprache zu erlernen und bauen Hürden ab, die Auslandsaufenthalte erschweren.
4) Europabildung konkret – Europäische Hochschulen und Europa-Lehrer*innen
Die Identifikation mit Europa ist auch nach 70 Jahren Aufbau der Europäischen Gemeinschaft keine Selbstverständlichkeit. Deshalb brauchen wir in allen Schulen und Bildungseinrichtungen Menschen, die sich mit der Idee Europas identifizieren und zu Vorbildern werden für ein europäisches Lehren, Lernen und Leben. Wir brauchen Europa-Lehrer*innen und Europäische Hochschulen als europäische Kristallisationspunkte in der Bildungsbiographie junger Menschen. Europa-Lehrer*innen sind Lehrkräfte, die in einem anderen europäischen Land studiert und gearbeitet haben, für mehrere Jahre in ein anderes Land wechseln und als Bildungsbotschafter Mehrsprachigkeit und europäische Grundbildung in die Schulen einbringen. Wir fordern deshalb: Deutschland macht sich für europäische Leuchtturm-Projekte in der Bildungspolitik stark, die EU entwickelt und finanziert ein Programm für Europa-Lehrer*innen und baut das europäische Hochschulnetzwerk aus und fördert die Einrichtung von offiziellen Europa-Universitäten und dauerhafter Kooperationen von Hochschulen über die Landesgrenzen hinweg. Europa-Schulen sowie die deutschen Auslandsschulen und die Pasch-Initiative werden weiter gefördert und Programme für virtuelle europäische Studiengänge, Europa-Professuren und Europa-Studiengänge können folgen.
5) Ausbildung fördern – Europa-BAföG begründen
Deutschland soll sich dafür einsetzen, mittelfristig die Grundlagen für eine europäisch finanzierte Ausbildungsförderung zu schaffen. Diese soll als Teilzuschuss allen Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden, Studierenden sowie Menschen in einer beruflichen Aufstiegsfortbildung offenstehen und die Förderung des europäischen Austauschs als festen Bestandteil beinhalten. So schaffen wir mehr Chancengleichheit für das sozialdemokratische Versprechen vom Aufstieg durch Bildung – ein Europäischer Traum für alle EU-Bürger*innen.
6) Bildungsunion Europa voranbringen – Europäische Hochschulkonferenz gründen
Deutschland soll sich dafür einsetzen, die Bologna-Konferenzen zu einer Europäischen Hochschulkonferenz weiterzuentwickeln. Diese soll konkrete Maßnahmen ergreifen, um im Europäischen Hochschulraum drei Kernziele zu erreichen: erstens die Wissenschaftsfreiheit zu garantieren, zweitens Bildungsteilhabe für alle zu verwirklichen sowie drittens mehr Bildungsmobilität, Austausch und Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Wir fordern außerdem die Umsetzung eines europäischen DEAL-Projektes, um den Bildungseinrichtungen europaweit die Möglichkeit zu geben, der Marktdominanz der großen Wissenschaftsverlage eine europäisch geeinte Wissenslandschaft entgegenzusetzen. Wir brauchen einen Europa-DEAL, um Open Source zu fördern, nachhaltige und für Einrichtungen und Autor*innen gleicherweise faire Nutzungsvereinbarungen zu treffen und sicher zu stellen, dass öffentlich finanzierte Forschung auch der Allgemeinheit frei zur Verfügung steht.
7) Europa der digitalen Souveränität – Einen europäischen Suchindex aufbauen
Deutschland soll sich dafür einsetzen, dass die EU mit öffentlichen Finanzmitteln einen eigenen Suchindex aufbaut und der Öffentlichkeit und für digitale Innovationen zur Verfügung stellt (Open Web Index). Europa muss bei der Verbreitung und Zugänglichkeit von Wissen sicherstellen, dass wir dauerhaft von den großen Monopolen in den USA, Russland und China unabhängig sind. Dazu soll die EU eine eigene Datenbank schaffen, in der alle findbaren Webseiten mit Inhalten und Links analysiert und geordnet abgespeichert sind. Unser Ziel: Europa zum digitalen Standard für Datenschutz, Freiheit und Gleichberechtigung im Netz und gemeinwohlorientierte digitale Innovationen zu machen.
8) Kontinent der Zukunft – Gründung einer Europäischen Agentur für Sprunginnovationen
Im Umfeld der marktdominierenden Digitalkonzerne aus den USA und China sind die enormen Investitionsmittel für die nächsten disruptiven Innovationen nur gemeinsam aufzubringen. Deshalb fordern wir die Gründung einer Europäischen Agentur für Sprunginnovationen als Bestandteil des EU-Finanzrahmens 2021-27 und als Teil möglicher Konjunkturprogramme zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie. Auch die Europäische Agentur für Sprunginnovationen soll dabei die Entwicklung und Erforschung bahnbrechender Ideen, hochinnovativer Produkte, Prozesse und Dienstleistungen fördern und zusätzlich die Agenturen und Innovationsförderprogramme der Mitgliedsstaaten vernetzen. Zusätzlich sollen auch besonders finanzintensive und bahnbrechende Projekte im anwendungsnahen Großforschungsbereich durch die europäische Agentur und zusätzlich in gemeinsamer Finanzierung der nationalen Agenturen umgesetzt werden. Anders als ähnliche Programme in den USA und China soll das europäische Innovationsmodell dabei nicht von militärischen und überwachungstechnischen Entwicklungen und Interessen abhängig sein, sondern einen eigenen europäischen, datenschutzkonformen und am Gemeinwohl orientierten Weg gehen. Dazu zählen auch – ggf. weniger profitable – Innovationen und Projekte im Bereich Open Data, Open Source und Creative Commons.
9) Aus der Krise lernen – Investitionen in Gesundheits- und Klimaforschung
Globale Herausforderungen lassen sich nur gemeinsam lösen, das gilt sowohl für globale Pandemien als auch die Klima-Krise. Deutschland soll sich dafür einsetzen, im EU-Finanzrahmen 2021-27 die Finanzmittel für die Investitionen in Gesundheits- und Klimaforschung deutlich zu erhöhen. Im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft und darüber hinaus muss Deutschland sich dafür einsetzen, dass die Europäische Union in der globalen Gesundheitspolitik neue Akzente und Schwerpunkte setzt. Die Bundesregierung sowie die Europäische Union müssen sich für die weitere Internationalisierung von medizinischer Forschung, Translation, den fairen weltweiten Zugang zu Medikamenten und Impfstoffen und die effiziente Zusammenarbeit in den globalen Netzwerken verstärkt einsetzen. Gleichzeitig soll die Vernetzung der europäischen Wissenschaftler*innen untereinander besonders im Fokus stehen und in diesem Bereich weiter gefördert werden. Gemeinsame Forschungsprojekte aus verschiedenen EU-Ländern verdienen besondere Unterstützung, öffentlich finanzierte Forschungsergebnisse müssen für alle EU-Mitgliedsstaaten verfügbar sein und die EU soll digitale Plattformen entwickeln und fördern, die Austausch und Vernetzung in der praktischen Forschungsarbeit unterstützen.
10) Europa der Bildung und Innovation
Aufbauend auf der Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000 und dem Nachfolge-Konzept „Europa 2020“ sowie in enger Absprache mit unseren Partnern der Trio-Ratspräsidentschaft Portugal und Slowenien soll sich Deutschland für eine neue Bildungs- und Innovationsvision für Europa einsetzen.
DR. ERNST DIETER ROSSMANN
ist Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages. Für die SPD-Bundestagsfraktion ist er Berichterstatter für Grundsatzfragen der Europäischen Bildungszusammenarbeit.
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Dieser Text ist ein Debattenbeitrag und gibt die Meinung des Autors wider. Sie entspricht nicht unbedingt der Position des Wissenschaftsforums der Sozialdemokratie oder der SPD insgesamt.